Bitte benutzen Sie diese Referenz, um auf diese Ressource zu verweisen: doi:10.22028/D291-32582
Titel: Der Tod des Utopisten. Gescheiterte Neuentwürfe eines "gerechten" Wirtschaftssystems in der europäischen Literatur vor 1929
VerfasserIn: Nesselhauf, Jonas
HerausgeberIn: Ebert, Sophia
Glaeser, Johannes
Sprache: Deutsch
Titel: Ökonomische Utopien
Startseite: 171
Endseite: 185
Seiten: 171–185
Verlag/Plattform: Neofelis
Erscheinungsjahr: 2013
Erscheinungsort: Berlin
DDC-Sachgruppe: 330 Wirtschaft
830 Deutsche Literatur
840 Französische Literatur
860 Spanische und portugiesische Literatur
Dokumenttyp: Buchbeitrag
Abstract: Die Beschäftigung mit dem wirtschaftlichen System ist immer dann am Stärksten, wenn die ökonomische Krise längst alle Lebensbereiche und Gesellschaftsschichten erreicht hat. Bereits vor der verheerenden Weltwirtschaftskrise von 1929 erlebte der Kapitalismus immer wieder (und meist systemintern herbeigeführte) Spekulations- und Finanzkrisen, sodass sich bereits in literarischen Texten des späten 19. Jahrhunderts explizite Darstellungen von idealistischen Antikapitalisten finden lassen. Doch viele der Utopisten, die alternative Wirtschaftssysteme erdenken, scheitern kläglich – in Émile Zolas "L’Argent" (1891) ist es der kränkliche Träumer Sigismund, der dem ausbeuterischen Kapitalismus in seinen ausufernden Schriften ein System des "collectivisme" entgegensetzen will: Keine Konkurrenz, kein Privatkapital, kein Handel, keine Börse – "Das einzige Wertmaß ist nur noch die Arbeit." Doch der Intellektuelle stirbt über seinen Papieren, ausgerechnet im schäbigen Hinterzimmer des Inkassobüros seines hochkapitalistischen Bruders. Doch nicht immer findet diese Auseinandersetzung so engagiert statt wie am Reißbrett des antikapitalistischen Utopisten Sigismund; in Hans Falladas Roman "Kleiner Mann – was nun?" etwa, dem Gesellschaftspanorama zur Zeit der Inflation im Berlin der 1920er Jahre, beschließt der archetypische Kleinbürger Pinneberg, sich eher passiv gegen das aktuelle Wirtschaftssystem zu wehren: "Und das nächste Mal wähle ich doch Kommunisten!" Die Beschäftigung mit Neuentwürfen eines alternativen und gerechteren Systems findet vorwiegend in den intellektuellen Schichten der Gesellschaft statt, während sich die Angestellten- und Arbeiterklasse durch die Unterstützung extremer politischer Lager eher bestehenden marxistischen oder kommunistischen Ideologien unterwirft. Die Verbindung einer politischen und wirtschaftlichen Neuausrichtung der Gesellschaft zeigt sich in Ramón del Valle-Incláns bitterbösen Gesellschaftsgroteske "Luces de Bohemia" (1921/24): Der blinde Intellektuelle Máximo Estrella wird von seiner Umgebung ausgebeutet und betrogen; wehrlos werden erst er und später seine Familie um Besitz, Geld und schließlich Leben gebracht. Während die soziale Situation der Straßen Madrids einer postapokalyptischen und zivilisationsfeindlichen Umwelt gleicht, fordert er (ausgerechnet in einer Polizeizelle) die Abschaffung der alten Ordnung "durch die Vernichtung des Reichtums". Diese drei literarischen Texte zeigen symptomatisch den Tod des Antikapitalisten: Auf der einen Seite erarbeitet der idealistisch-intellektuelle Utopist (in einem jeweils sehr symbolisch aufgeladenen Raum) eine gerechtere Wirtschaftsordnung und ein besseres Gesellschaftssystem, geht dabei aber so gnadenlos wie bejammernswert zugrunde. Demgegenüber steht der Vertreter des Bürgertums, der sich seiner Ohnmacht bewusst lediglich passiv Widerstand leistet. Dabei hat er, sich den extremen politischen Lagern und den jeweiligen politisch-ideologischen Programmen hingebend, zwangsläufig ebenso wenig Erfolg wie die dem Tode geweihten Träumer. Und so bleibt es bei den wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Gedanken, ungelebten Utopien, Fiktionen in der Fiktion.
Link zu diesem Datensatz: urn:nbn:de:bsz:291--ds-325828
hdl:20.500.11880/29917
http://dx.doi.org/10.22028/D291-32582
Datum des Eintrags: 29-Okt-2020
Fakultät: P - Philosophische Fakultät
Fachrichtung: P - Kunst- und Kulturwissenschaft
Professur: P - Jun.-Prof. Dr. Jonas Nesselhauf
Sammlung:SciDok - Der Wissenschaftsserver der Universität des Saarlandes

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